Winterreifen im Sprachtest
Der Winter naht, und aus den Autohäusern trudeln die Reifen-Prospekte ein. "Mein Sohn ist kaum zu bremsen, meine Winterräder ganz sicher." So liest man da - und zuckt zusammen. Warum? Grammatikalisch gesehen, ist das ein sogenannter elliptischer Satz. Wie einer Ellipse etwas zum Kreis fehlt, so fehlt in diesem Fall das Verb im zweiten Teil des Satzes. Man muss das Verb aus dem ersten Teil also mitdenken. Aber - und darin liegt das Problem - die richtige Verbform wäre dann sind und nicht ist. Denn in seiner Gänze lautet der Satz: "Mein Sohn ist kaum zu bremsen, meine Winterräder sind ganz sicher zu bremsen." Stünde da "Mein Sohn ist kaum zu bremsen, mein Auto ganz sicher", wären also beide Satzteile in der Einzahl, dann hätte alles seine Richtigkeit.
Der Duden Nr. 9 "Richtiges und gutes Deutsch" hält fest, dass man in solchen Kombi-Sätzen das Verb im Allgemeinen nicht weglassen kann, wenn es im Numerus abweicht. Der Satz "Erst wurden die Teppiche verkauft und dann (wurde) der Schmuck verhökert" ist danach nicht korrekt. Aber die Formulierung im Allgemeinen hat die Duden-Redaktion mit Bedacht gewählt.
Denn gelegentlich, so heißt es weiter, finde man auch elliptische Konstruktionen, bei denen die Abweichung akzeptiert wird. Und dann folgt ein interessantes Beispiel: Im Johannesevangelium (14,10) steht nach Luthers Übersetzung: "Glaubst du nicht, dass ich im Vater (bin) und der Vater in mir ist?" Der Reformator hatte also die Diskrepanz in Kauf genommen.
In der "Einheitsübersetzung" allerdings, die heute im katholischen Gottesdienst benutzt wird und an deren Entstehen nach 1962 auch evangelische Theologen beteiligt waren, heißt es: "Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und dass der Vater in mir ist?" Da hatte man sich also für grammatikalische Klarheit entschieden. Bei der besagten Reifen-Werbung wäre das auch besser gewesen.
Nebenbei bemerkt: Verpönt sind auch elliptische Sätze, bei denen ein einziges Verb für zwei unterschiedliche Vorgänge herhalten muss. Merke: "Die Uhr schlug Mitternacht und der Gast mit der Faust auf den Tisch." Wird diese Verknappung allerdings als Stilmittel eingesetzt, so drücken Sprachhüter ein Auge zu. An schönen Beispielen ist ja auch kein Mangel. Etwa: "Nimm dir Zeit und nicht das Leben!" Oder: "Das Kabinett hielt den Mund und Adenauer seine Rede". Vor allem Heinz Erhardt liebte solche Pointen: "Es war sehr kalt, ich fror vor mich hin, denn nicht nur meine Mutter, auch der Ofen war ausgegangen."
Wie schon gesagt: Der Winter naht.