Der Vorsatz im Nachsatz
Ein Wort hat immer Hochkonjunktur zum Jahresbeginn: Vorsatz. Alle Welt fasst gute Vorsätze, und so wollen wir nicht hintanstehen - allerdings unter einem anderen Blickwinkel. Gerade an einem Wort wie Vorsatz lässt sich die Komplexität unserer Sprache dokumentieren. Vorsilben machen es möglich.
Es fängt schon damit an, dass Vorsatz ja nicht gleich Vorsatz ist. Damit kann ein löblicher Entschluss gemeint sein, aber auch die finstere Absicht zu einer Straftat. Einen Vorsatz brauchen wir zudem, wenn aus der Nudelmaschine vorne Ravioli herauskommen sollen, und der Buchbinder kennt den Vorsatz als erstes Doppelblatt nach dem Deckel. Womit auch gleich der Nachsatz abgehakt wäre: Das ist logischerweise das Doppelblatt vor dem hinteren Deckel. Aber so nennt man auch eine Ergänzung im Schriftverkehr, und in der Grammatik steht der Nachsatz am Ende eines Satzgefüges.
Ein Nebensatz ist ein untergeordneter Satz, und zu Gegensatz muss man nicht viel erklären - es sei denn, dass darunter in der Musik auch der erste Kontrapunkt zum Thema einer Fuge verstanden wird.
Damit aber nicht genug: Aussatz ist unser altes Wort für die Lepra, weil die Kranken aus der Gesellschaft ausgegliedert wurden. Unter Entsatz versteht man eine militärische Operation, um eine eingekesselte Truppe zu befreien. Besatz kann einerseits ein aufgenähtes Teil an einem Kleidungsstück bedeuten, andererseits den Wildbestand in einem Revier. Nimmt einer unsere Stelle im Krankheitsfall ein, so ist er Ersatz, und Ersatz kann jemand verlangen, dem man einen Schaden zugefügt hat. Der Durchsatz ist die Stoffmenge, die in einer bestimmten Zeit durch einen Webstuhl läuft, oder die Datenmenge, die pro Zeiteinheit per Computer übertragen werden kann. Mit einem Aufsatz mühen sich a) Schüler im Deutschunterricht ab, b) begegnet er uns als aufmontierter Teil bei einem Möbelstück oder als Schallbecher bei Orgelpfeifen, und c) wird auch das Prunkgeschirr inmitten einer Festtafel so genannt. Absatz hat gleich fünf Bedeutungen: erhöhter Teil der Schuhsohle, Unterbrechung in einem Text, abgetrennter Textteil, Verkauf von Waren, Podest sowie geologische Ablagerung. Und für Ansatz fallen einem sogar neun Erklärungen ein: Lippenstellung beim Trompetenblasen, Grundstoff für einen Hauslikör... Wir brechen ab.
So funktioniert halt Sprache, mag man lakonisch anmerken. Schon richtig, aber daraus lässt sich auch erkennen, was an Erhaltenswertem in einem Wortschatz steckt - besonders wichtig in Zeiten der neuen hektischen Medien, die den Kulturtechniken des Lesens und Schreibens ja nicht immer zuträglich sind. Nur wer die Augen offen hält für die gewachsene Vielfalt unserer Sprache, sieht auch die Risiken des Verlustes. Und das wollen wir an dieser Stelle immer wieder einmal tun - so viel Vorsatz muss sein.