Die Jungfrau und die Rechtschreibreform
Der sitzt halt in seinem Elfenbeinturm". So sagt man gerne etwas despektierlich, wenn sich jemand zurückgezogen hat und nicht mehr am Tagesgeschehen teilnimmt. Aber warum Elfenbeinturm? Wie so oft ist die Bibel die Quelle, in diesem Fall das Hohelied, jene einzigartige Sammlung von zärtlich-blumiger Liebeslyrik aus dem Alten Testament. Dort wird im Kapitel 7 detailreich und nicht ohne erotische Note eine Geliebte beschrieben, und da steht auch: "Dein Hals ist wie ein Turm von Elfenbein".
Nun gilt das Elfenbein schon immer als besonders edel und wertvoll, und das ist auch im Christentum so. Elfenbein wurde schon früh zum Inbegriff der Reinheit, zum hochgeschätzten Werkstoff für kostbare Kruzifixe, Buchdeckel oder Vasa Sacra, heilige Gefäße für Hostien und Reliquien. Damit aber nicht genug: Wer etwa in der Gnadenkapelle von Kloster Beuron an die Decke schaut, findet dort die Buchstaben TE für Turris Eburnea, lateinisch für elfenbeinerner Turm, eine der Anrufungen Mariens aus der Lauretanischen Litanei. Denn das Bild aus dem Hohelied war bereits im Mittelalter auf die Gottesmutter als Verkörperung der Schönheit und Verehrungswürdigkeit, aber auch der Abgeschiedenheit, Reinheit und Unberührtheit umgemünzt worden.
Im 19. Jahrhundert folgte dann ein Bedeutungswandel. 1837 schrieb der französische Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve über den Schriftsteller Alfred de Vigny, dieser habe sich zurückgezogen dans une tour d' ivoire, in einen Elfenbeinturm. Dabei klang wohl eine gewisse Anerkennung für den konsequenten Rückzug zugunsten der reinen, hehren Kunst an, aber auch der Tadel, darüber das tatsächliche Leben aus dem Blick verloren zu haben.
Heute überwiegt eher die negative Assoziation. Wer in einem Elfenbeinturm lebt, ist weltfremd, schert sich nicht um den Rest der Bevölkerung und trifft Entscheidungen ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konsequenzen. In diesem Sinn setzte die studentische 1968er-Generation den Begriff gegen die Professorenschaft ein. Und das wirkt nach, vor allem in Hinsicht auf die Wissenschaft. Nur ein Beispiel, das bei einer Sprachglosse naheliegt: Als sich der Rechtschreibrat vor 2006 Gedanken über eine effektive Reform machen sollte, wäre der Kontakt mit den Anwendern - also Otto Normalschreiber - das Wichtigste gewesen. Stattdessen erging man sich in professoraler Selbstgenügsamkeit und reformierte spitzfindig an der Allgemeinheit vorbei.
Wie sieht das dann aus?
Die Treppe hoch steigen schreibt man getrennt, die Ärmel hochkrempeln schreibt man zusammen, und bei hoch achten oder hochachten hat man die Wahl… Was hochgradig (nur so!) gewöhnungsbedürftig ist, weil hochkompliziert beziehungsweise hoch kompliziert (beides möglich!)
Da ist nur eines sicher: Auf solche Reformatoren singt niemand das Hohelied.