Journalisten wissen es: Man tut sich leichter, einen Verriss zu schreiben als eine Eloge. Warum? Weil es viel weniger Adjektive des Lobens gibt als Adjektive des Tadelns. Phantastisch, phänomenal, sagenhaft, sensationell, genial, grandios, überragend, ausgezeichnet, erstklassig, meisterhaft, brillant, begeisternd - sehr viel mehr bietet uns die Sprache nicht, und der Abnützungsgrad ist deswegen auch sehr hoch. Zu erleben war das jetzt nach der 7:1-Klatsche für Brasilien in allen deutschen Medien, ob Fernsehen, Funk oder Print. Da purzelten die immer gleichen Superlative. Und wenn jemand gar nicht mehr wusste, wie er seine Verblüffung in Worte fassen sollte, dann bemühte er den Wahnsinn, der ja seit dem Mauerfall von 1989 als der Superlativ schlechthin gilt.
Vollends konsequent war die "Bild"-Zeitung, die in der Nacht das ganze Blatt umkrempelte. Ihre letzten angedruckten Ausgaben erschienen am Mittwoch auf der Seite 1 unter dem Titel Ohne Worte - und dann folgten fünf weitere Seiten ohne Text, nur mit Fotos der deutschen Torschützen. Ein spontaner Geniestreich. Chapeau! In der Halbzeit hatte es den Bild-Leuten allerdings die Sprache noch nicht verschlagen. Da tauchte nach dem 5:0 auf ihrem Online-Portal eine höchst bemerkenswerte Neuschöpfung auf: Torgasmus. Und auch auf die Gefahr hin, dass hier manche die Grenzen der Dezenz verletzt sehen mögen, allein des Wortwitzes willen: nochmals Chapeau!
Manchmal liegen solche Grenzen der Dezenz eher im Verborgenen. Im Mittagsmagazin von ARD und ZDF am Mittwoch räsonierte der Moderator nach dem deutschen Jahrhundertsieg über das Verhältnis von Historie und Hysterie.
Was einem da kurz durch den Kopf zuckte, war der Hintergrund des Wortes Hysterie. Da ist wieder ein kurzer Ausflug ins Altertum fällig: Die antike Medizin hatte noch andere Vorstellungen von unserem Körper. Die Nase galt als das Abflussventil des Gehirns, das Herz als Sitz der Seele, in der Milz wurde die Heiterkeit verortet, in der Galle die Schwermut, in der Leber alle Temperamente. Und dann gab es noch die Gebärmutter, griechisch: hystéra. Von ihr glaubten die Altvorderen, dass sie - wenn sie nicht andauernd mit Sperma gefüttert werde - im Körper suchend umherwandere, sich letztlich am Gehirn festsetze und dann zu seelischen Störungen führe, eben zu hysterischem Verhalten.
Aber so abstrus es klingen mag, diese Theorie wirkte noch nach bis ins 20. Jahrhundert hinein - bis hin zur Annahme, dass nur Frauen hysterisch werden können.
Wer am Dienstagabend die völlig durchdrehenden männlichen Fans nach dem Spektakel von Belo Horizonte erlebte, hatte den schlagenden Gegenbeweis. Aber wen wundert das in torgiastischen Zeiten.
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